Welche Bedeutung hat eine kritische Reflektion der Fachgeschichte für die Weiterentwick-lung der Ethologie im 21. Jahrhundert?
Wie kann das Potenzial ethnologischer Archive und Sammlungen durch innovative Zu-sammenarbeit mit Herkunftsgesellschaften neu erschlossen werden?
Als eines der ältesten kulturanthropologischen Forschungseinrichtungen im deutschsprachigen Raum verfügt das Frobenius-Institut über umfangreiche Archive die, wie im Falle des Vor- und Nachlassarchivs, kontinuierlich erweitert werden. Auf dieser breiten Basis aber auch unter Her-anziehung von Dokumenten externer Archive stellt der Forschungsschwerpunkt Fachgeschichte ein Alleinstellungsmerkmal im deutschsprachigen Raum dar. Bei der Analyse dieser Bestände geht es nicht zuletzt um eine Versachlichung der oft emotional geführten Debatte über die historische Rolle des Faches Ethnologie sowie um eine kritische Auseinandersetzung mit dem Namensgeber des Instituts. Neben der engen Wirkungsgeschichte des Instituts werden insbesondere kritische und selbstreflexive fachhistorische Studien betrieben, die sich mit den einzelnen Ethnologinnen und Ethnologen, ihren Arbeiten und Vernetzungen zu unterschiedlichen Zeiten auseinandersetzen. Mehrere Forschungsprojekte und zahlreiche Publikationen entstanden aus diesem Schwerpunkt, so untersucht zurzeit ein in Wien angesiedeltes Projekt in engster Koope-ration mit dem Frobenius-Institut die engen fachlichen Verbindungen zwischen Wien und Frankfurt von der Zwischenkriegszeit bis in die Nachkriegszeit. Aktuell leiten zwei MitarbeiterInnen des Instituts die AG Fachgeschichte der Deutschen Gesellschaft für Sozial- und Kulturanthropologie.
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Eine Besonderheit des Forschungsschwerpunktes Fachgeschichte ist die Reihe von Publikumsausstellungen, die aus den verschiedenen fachhistorischen Fragestellungen heraus entwi-ckelt wurden: u.a. 2016 in Berlin (Martin-Gropius-Bau), 2017 in Mexico City (Museo Nacional de Antropología), 2019 in Frankfurt am Main (Museum Giersch), 2021 in Zürich (Museum Rietberg), 2023 in Darmstadt (Hessisches Landesmuseum) und in Paris (Musée de l’homme) sowie 2024 in Frankfurt am Main (Weltkulturen Museum).
Die Archive des Instituts sind zudem eine wichtige Quelle der Provenienzforschung. Schon lange vor der aktuellen Restitutionsdebatte hat das Institut begonnen, in enger Zusammenarbeit mit Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern aus den betreffenden Ländern sowie mit lokalen beziehungsweise indigenen Gemeinschaften unveröffentlichte Originalquellen systematisch zu transkribieren, zu übersetzen und teilweise zu publizieren. Häufig ging die erste Initiative für solche Projekte von Vertretern der Herkunftsgesellschaften aus. Dabei bearbeitet das Institut seine reichen Bestände im Sinne der 2020 veröffentlichten „Drei Wege-Strategie für die Erfas-sung und digitale Veröffentlichung von Sammlungsgut aus kolonialen Kontexten in Deutsch-land“ (Zugang – Transparenz – Kooperation). Diese drei Wege werden nicht als eine vorab festgelegte „Top-Down-Strategie“, sondern als ein offener Prozess verstanden. Ein Weg, insbe-sondere die historische Bildbestände zu teilen sind etwa gemeinsam kuratierte Ausstellungen sowie die Übergabe digitaler und analoger Kopien – unter anderem 2008 in Ouagadougou (Burkina Faso), 2012 in Abuja, Ife, Makurdi, Minna und Yola (Nigeria), 2015 in Addis Ababa und Jinka (Äthiopien), 2017 in Dakar (Senegal), 2019 und 2021 erneut in Addis Ababa (Äthi-opien) sowie 2022 in Derby (Australien). Auf eine ethnologisch informierte und damit kulturell sensible Art und Weise macht das Institut so historisches Quellenmaterial den Menschen in den Regionen und Ländern zugänglich, in denen es im Laufe des 20. Jahrhunderts entstanden ist. Dabei kommen den Fotografien und Zeichnungen aus der ansonsten sehr bilderarmen Frühzeit des 20. Jahrhunderts ebenso eine besondere Bedeutung zu wie den unveröffentlichten Reiseta-gebüchern, Feldnotizen und Briefen, die vor Ort oft die frühesten Schriftquellen darstellen. In den vergangenen Jahren wurden etwa eine Reihe umfangreicher Manuskripte der Äthiopienfor-schungen des Instituts aus den 1950er und 1960er Jahren ins Englische übersetzt und publiziert. Ebenso wurden die Archivbestände der Expeditionen des Instituts in den australischen Kimberley 1938-39 und 1954-55 transkribiert, ins Englische übersetzt und den inte-ressierten Aboriginal Corporations zur Verfügung gestellt.
Die in gemeinsamer Forschungsarbeit erfolgende Erschließung der Archivbestände profitiert erheblich davon, dass die Menschen aus den Herkunftsländern auf der Basis von lokalem Wis-sen ihre eigenen Ontologien und Bedeutungszusammenhänge einbringen. Voraussetzung dafür sind langjährige und vertrauensvolle Beziehungen ebenso wie Offenheit und Sensibilität gegen-über den teilweise problematischen ethischen Kontexten der Entstehung der Dokumente sowie gegenüber den spezifischen lokalen Bedürfnissen, denen die Forschung dienen sollte (Ge-schichte für wen?). Die multiperspektivische und selbstreflexive Bearbeitung der Bestände führt zu einer Verständigung über die Art ihrer Erschließung, Publikation und künftigen Verwen-dung sowie letztlich zu einer verantwortungsvollen digitalen Restitution.
Aufgrund ihrer Expertise im Umgang mit Archiven und Sammlungen aus kolonialen Kontexten wurden zwei Mitarbeiter in die auf Anregung des Hessischen Ministeriums für Wissenschaft und Kunst von der Konferenz der Hessischen Universitätspräsidien eingerichtete Kommission „Koloniales Erbe in Hessen“ berufen. Darüber hinaus existiert eine enge Zusammenarbeit mit der bei der Kulturstiftung der Länder angesiedelten „Kontaktstelle für Sammlungsgut aus kolo-nialen Kontexten“, und Angestellte des Instituts waren beziehungsweise sind im deutschland-weiten „Netzwerk koloniale Kontexte“ aktiv, wobei sie maßgeblich an der Entwicklung von Empfehlungen für „collaborative digitization projects“ mitgewirkt haben.
Zurzeit ist das Institut an einem vom deutsch-französischen Provenienzforschungsfonds zu Kul-turgütern aus Subsahara-Afrika finanzierten Projektantrag beteiligt. Ein ab 2025 geplantes For-schungsprojekt, das bereits bei der DFG als Sachbeihilfe eingereicht ist, möchte sich der kolla-borierenden Repatriierung von Filmmaterial nach Äthiopien widmen. Für die Zukunft ist ge-plant, die Arbeit im Forschungsschwerpunkt „Fachgeschichte und Provenienz“ unter anderem mit Projekten zu den umfangreichen und bis dato noch nicht erschlossenen Exzerpturen von Leo Frobenius, Hermann Baumann und László Vajda fortzuführen. Auch soll die bereits be-gonnene Beschäftigung mit der Geschichte der Deutschen Gesellschaft für Sozial- und Kultur-anthropologie (ehemals DGV) fortgesetzt werden, deren Aktenbestand sich zum großen Teil am Frobenius-Institut befindet. Ferner sind Projekte zu Karin Hahn-Hissink geplant, die für das Fortbestehen des Instituts durch die Kriegsjahre von wesentlicher Bedeutung war, sowie über Ethnologinnen und Ethnologen, die während der NS-Zeit emigrierten. Ein weiteres, etwas brei-ter angelegtes Vorhaben setzt sich aus einer zugleich historischen und spezifisch ethnologischen Perspektive mit dem Verhältnis zwischen Fach und Institution, das heißt zwischen dem frühe-ren Völkerkundemuseum und der Ethnologie insgesamt auseinander. Hierfür ist auch die enge Zusammenarbeit, die das Frobenius-Institut mit dem Weltkulturen Museum in Frankfurt unter-hält, von großem Wert.
Abgeschlossene und laufende Drittmittel-Projekte:
„Histoire croisée“ der Ethnologie und der Vorgeschichte in Deutschland und Frankreich bis in die 1960er Jahre
(Richard Kuba, Jean-Louis Georget, ANR, DFG, 2018–2020)
Die deutschen ethnographischen Expeditionen in den australischen Kimberley. Forschungsgeschichtliche Bedeutung, digitale Repatriierung und gemeinsame Interpretation des indigenen Kulturerbes
(Richard Kuba, Martin Porr, DFG, 2020 2024)
Ausbau des Mittel-Indien-Archivs
(Roland Hardenberg, Peter Steigerwald)
Projekte in der Antragsphase
Zimbabwean digital rock art archive
(Richard Kuba, VolkswagenStiftung, Neueinreichung geplant)
European scientific heritage from Africa and research ethics: facing the current crisis of perceptions
(Richard Kuba, Sophia Thubauville, EU-Projekt Horizon 22)
Das ethnographische Archiv. Erschließung, Auswertung und Restitution unveröffentlichter ethnologischer Quellen in Universitäts-, Museums- und Forschungssammlungen des deutschsprachigen Raumes
(Holger Jebens)
Film as process and ethnographic becoming through repatriation of archival footage
(Roland Hardenberg, Igor Karim, Sophia Thubauville, DFG)
Digitalisierung der Exzerptur von Prof. László Vajda
(Richard Kuba, DFG)